Aufruf zur ENTElenz

(Er* Version/ Sie* Version)

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„Der gehetzte Mensch ist allgegenwärtig. Er* steht morgens mit belegtem Brötchen als Frühstückersatz an der Bushaltestelle und quält sich abends weithin sichtbar hinter den Glasfronten eines Fitness Discounters, auf dass das Brötchen wieder verschwinde.“

 

Er* sitzt gebannt über ein Smartphone gekrümmt in der Straßenbahn, im Taxi, in der Kantine und wahrscheinlich auch auf dem Klo. Er* lädt zu Abschiedspartys, um den Übergang von einem Praktikum in Berlin zu einem Studienaufenthalt in Helsinki zu zelebrieren und manchmal torkelt er* nahe der Besinnungslosigkeit durch innerstädtische Amüsierviertel, weil das auch mal sein muss. Der gehetzte Mensch ist Stammgast in Magazinen und Feuilletons, wo er* von gehetzten, prekär beschäftigten Journalist*innen beschrieben wird, die für die Verheißung einer Festanstellung Freizeit und Seele verkauften. Er* ist Objekt der Betrachtung und Analyse in unzähligen wissenschaftlichen Artikeln, verfasst von Forscher*innen, die für die Verheißung einer Professur ohne Zögern auf Freund*innen und Familie verzichteten.

Man könnte nicht behaupten, der gehetzte Mensch wäre ein unerkanntes Phänomen. Weit dramatischer als die Beschreibung seines* Auftretens jedoch, sind die Manifestationen seines* Wirkens.

Der gehetzte Mensch macht sich kaputt, weil er* selbstvergessen Nikotin, Koffein, Alkohol, Benzodiazepine und Ritalin in sich hinein schaufelt, um dem eigenen Tempo gewachsen zu bleiben.

Er* macht seine* Umwelt kaputt, weil seine* Beschleunigung ohne Vielfliegerei und ohne ein optimiertes, ressourcenintensives Produktions- und Zustellwesen nicht denkbar wäre. Er* schafft es gerade noch, den Erfolgen seiner* Mitmenschen zu applaudieren, hat aber im Wahn des stetigen Weiterkommens weder die Kapazitäten noch das Verständnis, sie in ihrem Scheitern, ihren Nöten und Sorgen wahrzunehmen und zu stützen. Er* ist einsam, weil alle Beziehungen, die etwas bedeuten, mit dem Paradigma der permanenten Selbstbeschleunigung und -optimierung nicht vereinbar sind. Er* leidet an Verspannungen, chronischen Schmerzen und Schlaflosigkeit, weil er*, getrieben von der Angst nicht zu genügen, seinen* Körper dem Ziel des unaufhaltsamen Fortschritts bedingungslos unterordnet.

Der gehetzte Mensch ist ein im Paradigma der flüchtigen Sensation und des flüchtigen Erfolgs gefangener blinder Zerstörer* seiner* Umwelt und seiner* selbst.

Er* ist dies jedoch nicht, weil er* es nicht besser wüsste. Er* ist es, weil alle Zeichen darauf hin deuten, dass das gute Leben dort zu finden wäre, wo ein Maximum an Erfahrungen auf ein Maximum an Erfolgen trifft. Gelobt und geschätzt wird, wer unbeschadet durch das Abitur kommt, in Mindestzeit ein Studium absolviert und dabei möglichst gut aussieht. Das höchst erfolgreiche Geschäftsmodell sozialer Netzwerke basiert im Wesentlichen darauf, lose assoziierten Menschen die Möglichkeit zu bieten, sich in Echtzeit gegenseitig der Großartigkeit ihrer letzten Errungenschaften zu versichern. Solche virtuellen Räume, gemacht für das öffentliche Abfeiern neuer Frisuren, absolvierter Halbmarathons und des verträumt in einer Urlaubskulisse Sitzens, bieten per Konstruktion keinen Platz für alle Formen des Müßiggangs, der Faulheit und des Misserfolgs. Wer atemlos zwischen der Jagd nach typgerechten Konsumgütern, Karrieresprüngen und als einzigartig vermarktbaren Freizeiterlebnissen oszilliert, weil sich das Leben sonst schal und nutzlos anfühlte, und im Alter nichts zu berichten wäre, ist mitnichten ein schräger Vogel, sondern vielmehr Träger* einer breiten gesellschaftlichen Übereinkunft. Der gehetzte Mensch, und das ist vielleicht sein* paradoxer Kern, macht alles falsch und alles richtig zugleich.

In einigen Fällen wird dieser meist diffus wahrgenommene gesellschaftliche Auftrag zur unaufhörlichen Performance erstaunlich konkret formuliert. Als Beispiel kann die Exzellenzinitiative des Bundes zur Förderung deutscher Hochschulen genannt werden,

die den gehetzten Wissenschaftler* quasi per Dekret verordnete.

Seit ihrer erstmaligen Ausschreibung 2005, befindet sich das deutsche Hochschulwesen in einem steten Wettbewerb, in welchem Fördergelder in Milliardenhöhe verteilt, und Universitäten in Elite- beziehungsweise Nicht-Elite-Einrichtungen unterteilt werden. Da zudem an den meisten Hochschulen eine Anstellungspraxis herrscht, die für wissenschaftliche Mitarbeiter*innen als einzige langfristige Option das Erlangen einer Professur vorsieht, befinden sich Forscher*innen in Deutschland nunmehr in einem kontinuierlichen Zustand des institutionell festgeschriebenen und staatlich verordneten Wettbewerbs. So ist es wenig überraschend, dass unter Mitarbeiter*innen im sogenannten universitären Mittelbau die Gründung einer Familie mittlerweile als höchst riskantes Unterfangen gilt und im 3-Jahres Rhythmus stattfindende beruflich bedingte Verlagerungen des Lebensmittelpunktes teils schulterzuckend in Kauf genommen werden.

Doch im gleichen Maße, wie die Gesellschaft es vermag, das Individuum mit Instrumenten, die von einfachen Likes auf Facebook hin zu milliardenschweren gesetzlichen Initiativen reichen, in ein Korsett aus Leistungsdruck und Versagensangst zu zwängen, können wir diesen sich selbst befeuernden Kreislauf aus Verunsicherung, Vereinzelung und Beschleunigungswahn im Kollektiv durchbrechen.

Wir wollen daher der dem Geiste der Exzellenzinitiative entwachsenen Echse des Wettbewerbs eine Ente der Entschleunigung entgegenstellen

und rufen hiermit mit Pauken, Trompeten, Knabenchor, Konfettiregen und allem gebotenen Pomp die Entelenz-Initiative aus!

Wer also morgens von einem Wecker geweckt wird, möge ihn im Namen der Ente ignorieren. Wer also die Regelstudienzeit schon lange überschritten hat, möge im Namen der Ente noch zwei Semester dranhängen. Wer also nächstes Wochenende einen Kurztrip nach London geplant hat, möge ihn im Namen der Ente durch einen Spaziergang ersetzen. Wer also demnächst eine Prüfung schreibt, möge sie im Namen der Ente umgehend verschieben. Wem also eine Beförderung angeboten wird, der* möge sie im Namen der Ente ablehnen. Wer also joggen gehen möchte, möge sich im Namen der Ente ins Café setzen und eine Eisschokolade bestellen. Wer also gerade einen befristeten Arbeitsvertrag vorbereitet, möge ihn im Namen der Ente entfristen. Wer also eine Klassenarbeit korrigiert, möge im Namen der Ente die Einheitsnote Eins geben. Wer also nächste Woche keinen Bock hat, zu arbeiten, möge sich im Namen der Ente krankschreiben lassen. Wer also generell keinen Bock hat, zu arbeiten, möge sich im Namen der Ente organisieren und streiken.

Wer also die Erwartungen seines Umfelds nicht erfüllt, möge sie im Namen der Ente auch weiterhin nicht erfüllen.

Wer also unter Zeitdruck einen Text fertigstellen muss, möge im Namen der Ente aufhören, zu schreiben.

(Veröffentlicht in der Tante Paul Nr.12, verfasst von LiSA)